„Cimarrón“ war im 19. Jahrhundert auf Kuba die Bezeichnung für einen entlaufenen Sklaven. Der Cimarrón in Hans Werner Henzes „Rezital für vier Musiker“, Esteban Montejo, wurde 1860 geboren und führte im Alter von 104 Jahren mit dem kubanischen Ethnologen und Schriftsteller Miguel Barnet ein umfangreiches Gespräch über sein Leben. Barnet begründete damit die lateinamerikanische ethnobiografische Schule, die Berichte von Einzelpersonen, die nicht dem Umfeld der herrschenden Geschichtsschreibung angehören, für die Beschreibung der sozialen und psychischen Beschaffenheit eines Landes auswerten. Dieser Ansatz biografischer Forschung ist inzwischen Grundlage der qualitativen empirischen Forschung in den modernen Sozialwissenschaften geworden. Barnets Buch lieferte aber auch die Vorlage zu einem Libretto, das der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger verfasste. Hans Werner Henze hat Esteban Montejo 1969 noch persönlich kennengelernt,
da war dieser bereits 108 Jahre alt. Henze beschrieb diese Begegnung folgendermaßen: „Ich hatte noch nie einen so alten Mann gesehen. Er war
baumlang, ging langsam und hoch aufgerichtet, seine Augen waren lebendig, er strahlte Würde aus, schien sich klar darüber, eine historische Persönlichkeit zu sein“ (Henze 1984, S. 133). Enzensberger hatte dem Komponisten eine Einladung nach Kuba besorgt, wo er am 21. März 1969 für einen ersten Aufenthalt, der bis 16. April dauerte, eintraf. Er lernte Miguel Barnet kennen, der ihn verschiedenen kubanischen Künstlern vorstellte und mit dem Yoruba-Kult vertraut machte.
Henze beschloss während dieser vier Wochen, seine 6. Sinfonie in Havanna zur Uraufführung zu bringen. In diesem Stück versuchte er zum ersten Mal „die Aufnahme zeitgenössischer und auch zeitloser Folklore in die musikalische Konstruktion“, den „Schritt vom Zitat zur Integration“ (Henze 1996, S. 320). Der Grundrhythmus der 6. Sinfonie entstammt der Yoruba-Musik. Der zweite Kuba-Aufenthalt Henzes dauerte vom 8. November 1969 bis 27. Januar 1970. Zunächst studierte er die 6. Sinfonie ein und traf seine kubanischen Kollegen Jorge Berroa, Carlos Fariñas, Leo Brouwer und Juan Blanco; er sah häufig Miguel Barnet, der ihm außer der frisch erschienenen deutschen Ausgabe seines
Dokumentarromans El Cimarrón auch seine spanische Publikation von Canción de Rachel (Das Lied der Rachel) zeigte, das später als Vorlage zur
Fernsehoper La Cubana dienen sollte. Er unterrichtete außerdem an der Musikhochschule der Hauptstadt und beteiligte sich bei Ernteeinsätzen und an der Fabrikarbeit. Am 24. November wurde die neue Sinfonie uraufgeführt, und einige Tage später erlebte der Komponist ein Initiationsritual der Yoruba-Religion. Parallel zu den Arbeiten an El Cimarrón entstand sein Bratschenkonzert Compases para preguntas
ensimismadas (Zeitmaße für nach innen gerichtete Fragen, inzwischen umbenannt in Musik für Viola und 22 Spieler), und am 10. Dezember 1969 brachte er die Skizzen für das erste Stück von El Cimarrón auf Papier. Im Februar 1970 schloss er in seinem Haus in Marino bei Rom die Partitur ab und begann dort gemeinsam mit dem kubanischen Gitarristen Leo Brouwer, dem Flötisten Karlheinz Zöller, dem japanischen Schlagzeuger Tsutomu Yamash’ta und dem amerikanischen Sänger William Pearson mit den Proben für die Uraufführung,
die am 22. Juni 1970 im Rahmen von Benjamin Brittens Aldeburgh Festival stattfand. Eine umjubelte Tournee auf die Festivals von Spoleto, München, Edinburgh, Berlin und Avignon schloss sich an.
Enzensberger hatte das Libretto in 15 Bilder eingeteilt, die zum Teil historische Vorgänge, zum Teil die persönlichen Einstellungen des Cimarrón subjektiv reflektieren. Henze hat eine Partitur geschaffen, die aleatorische Komponenten enthält, zudem komponierte „Felder“, in denen Tonhöhen und Klänge festgelegt sind, aber Tempi und Dynamik von den Musikern abgestimmt werden müssen, sowie Momente der freien Improvisation. Es sind aber auch im klassischen Stil komponierte Teile vorhanden, namentlich die eher leisen, filigranen und oftmals berückend schönen Duette und Soli, zum Beispiel das Gitarrensolo im Nachspiel von Nr. I, „Die Welt“ oder das Flötensolo in Nr. VIII, „Die Frauen“. Dort wird darüber nachgesonnen, wie dem Cimarrón bei der Begegnung mit seiner Geliebten Ana, die er für eine Hexe hielt, angst und bange wurde. Zum Beginn von Nr. VII, „Die falsche Freiheit“, konzertiert die Piccoloflöte mit dem Vibraphon, unterstützt von den Tomtoms. Das Duett zwischen Sänger und Gitarre in Nr. XI, „Der Aufstand“, enthält eine der schönsten Unisonostellen der zeitgenössischen Musik. Filigran auskomponierte Ensembles, bei denen es auf die kammermusikalischen Qualitäten der Musiker ankommt, sind der Toque a Babalu Ayé in Nr. V, „Der Wald“, eine Referenz an den Lucumi-Kult auf Kuba, oder die Nr. VIII, „Die Frauen“, im Rhythmus eines kubanischen Son. In Nr. XIII, „Der schlechte Sieg“, leitet ein ebenfalls kubanischer Volksrhythmus, die Rumba, den Siegestaumel nach der Unabhängigkeit der Kubaner ein. Volksmusik hat der Komponist zudem in parodistischer Manier verwendet:
Eine Habanera in Nr. II, „Der Cimarrón“, deutet die Dekadenz der Kolonialherren an; in Nr. X, „Die Pfarrer“, verweisen leicht verstimmte Choräle auf die Verlogenheit des Klerus auf Kuba, und in Nr. XIII, „Der schlechte Sieg“, erzählt die Mundharmonika davon, wie sich die neuen „Herrenmenschen“ naiv und wie selbstverständlich auf der Insel breitmachen.
Eine Fülle von karibischen und afrikanischen Instrumenten ergänzt die folkloristische Seite der Partitur, darunter eine karibische Blechtrommel (Trinidad steel drum), die ihren ersten großen Einsatz in Nr. VII, „Die falsche Freiheit“, hat; dazu kommen Marimbula, Log drums, Boo bams, Tempelglocken, Congas und Bongos und viele andere, bekanntere Instrumente. Einige Instrumente sind für spezifische Theatereffekte reserviert, so eine Eisenkette, die einmal auf Holz fällt (Nr. III, „Die Sklaverei“) und ein anderes Mal auf Stahl (Nr. IV, „Die Flucht“) oder das Guiro, das der Sänger in Nr. IX, „Die Maschinen“, spielt und so immer mehr eins wird mit dem unerbittlichen Gang der modernen Maschinen in den Fabriken. Die Flötistin spielt in Nr. IV, „Die Flucht“, eine Maultrommel; da werden die Sterne hörbar gemacht, die der Aufseher sieht, wenn er vom Cimarrón einen Stein ins Gesicht geschleudert bekommen hat. In der Schaffensgeschichte von Hans Werner Henze stellt El Cimarrón einen Markstein dar. Es sieht so aus, als ob der Komponist hier mit wesentlichen Merkmalen seines bisherigen schöpferischen Tuns zu brechen beabsichtigt habe. Und der Schein trügt nicht: Henze übernimmt aus dem Vokabular der Moderne bestimmte Modelle und Zeichen (wie z. B. im Umgang mit aleatorischen Zufällen, mit dem Einbau improvisatorischer Teile, mit einer freien, nicht mehr seriell eingebundenen Tonalität und mit der Prädominanz von Elementen der kubanischen Folklore in der Rhythmik und in der Melodiebildung) und verwandelt sie in konkrete, reale Gestalten. Es entsteht eine Art von Musiktheater, wie sie bisher noch nicht gekannt und gekonnt wurde. Da ist der erzählerische Gestus, der ausgeht von der auf Tonbändern festgehaltenen Sprechweise des Esteban Montejo. Und da ist der Basso continuo, der musikalische Grundstock, dem das Ganze entwächst, um seine neuen Blüten zu treiben. Er ist aus uralten afrikanischen (kongolesisch-kubanischen) Perkussionsmusiken hervorgegangen und herangebildet. Das ist der manchmal leise, oftmals auch laut zu hörende Pulsschlag unseres Cimarrón. Michael Kerstan
...Virtuos das Zusammenspiel der Musiker, die ihre ‚Rollen’ blind verstehen
und verfolgen, die den Wechsel zwischen durchkomponierten Partien und
improvisatorischen Einlagen routiniert bewältigen...Hervorragende Musiker
und ein Kunstwerk, das am beschaulichen Bodensee durchaus Wellen schlagen
darf.